
Andrey Krasulin - EINHORN. Werke von 1960 bis 2023, Installationsansicht, Galerie Volker Diehl, Mommsenstraße, Berlin, 2023 © Marcus Schneider
kuratiert von Shenja Kiseleva-Afflerbach
Die Einzelausstellung von Andrey Krasulin (1934) in der Galerie Volker Diehl stellt erstmalig Werke vor, die 2022 – 2023 in Berlin entstanden sind. Krasulin, ein herausragender minimalistischer Bildhauer, wurde bekannt durch innovative monumentale Projekte im öffentlichen Raum. Seine Methode ist verbunden mit der Entdeckung eines neuen Blicks auf Objekte und Formen der gegenständlichen Welt, einer Art „Cropping“ von Alltäglichem, der Eliminierung von überflüssigen Details und Dekorativem. Krasulins „Neueste Periode“ ist erfüllt vom Eintauchen in den Raum der Stadt Berlin entlang der Spreeufer und zugleich von einer neuen Deutung von Erinnerung, Trauma und Zeit.




„Die Sowjetmacht und Andrey Krasulin haben einander nicht wahrgenommen“, sagt die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja über ihren Mann. Es ist in der Tat erstaunlich, in welchem Maße der auf monumentale Formen konzentrierte Bildhauer und Maler die Realität des sowjetischen Lebens nicht zur Kenntnis nahm. Er lebte einfach in einem Paralleluniversum, das nichts mit dem zu tun hatte, was um ihn herum geschah. Seine Arbeiten waren für die Kulturnomenklatura der UdSSR so ungewohnt, dass niemand ihren Inhalt verstand. Die von Krasulin bevorzugten Materialien wie Erde, Kies, Müll, Kisten und Hocker passten nicht in die Vorstellungen der Zeitgenossen von herkömmlichen künstlerischen Techniken.
Krasulin wird oft als russischer Vertreter der Arte povera bezeichnet. Doch dieser Vergleich ist nicht ganz zutreffend. Wenn er mit Müll und Verpackungen arbeitet, spricht er nicht vom Ende, sondern vom Anfang, nicht vom Verlust des Sinns, sondern von dessen Gewinn. Losungen, Aufrufe und Anklagen sind Krasulin fremd. Seine „arme“ Kunst ist die wirkliche Schönheit der Welt, ihre Fragilität, ihre Vergänglichkeit und ihre Unbesiegbarkeit. Krasulin entzieht sich Worten und Definitionen. Er spricht seine eigene Sprache, die so autark ist, dass sie keine Übersetzung braucht. Sie korrespondiert gleichzeitig mit dem Stil der Kykladenskulptur und der abstrakten Bildhauerei, mit der altrussischen Baukunst und dem Ready-made. Jeder, der seine Werke betrachtet, muss für sich selbst erkennen, was er sieht und fühlt.
Manche Werke von Krasulin gerieren sich als Ready-made. Aber es ist kein Ready-made im klassischen Sinne, ein Alltagsgegenstand, der vom Künstler zu Kunst erklärt wird. Ready- made enthält immer etwas konzeptionell Allegorisches. Krasulin Objekte sind frei von Anspielungen und Vergleichen. Sie demonstrieren „Abfall“ oder „Gebrauchtes“ als eine Entwicklungsstufe im Verhältnis zu den gewohnten Gegenständen. Wie bei Rembrandts alten Frauen sieht der Betrachter die Schönheit erst durch den Hinweis des Künstlers. Weder in Krasulins Skulpturen noch in seinen mit gefundenen Gegenständen geschaffenen Objekten finden wir eine Nachahmung bereits vorhandener Gegenstände.

Andrey Krasulin - EINHORN. Werke von 1960 bis 2023, Installationsansicht, Galerie Volker Diehl, Mommsenstraße, Berlin, 2023 © Marcus Schneider



Ein solches „Zeugnis für das Leben der Materie“ ist auch das Werk, das unserer Ausstellung den Titel gegeben hat. „Einhorn“ ist ein Fundstück der Berliner Tage. Das ausgezehrte Skelett eines Alltagsgegenstands, das sein wahres Wesen nach jahrelangem Aufenthalt in Wasser und Schlamm offenbart. Vom Künstler gefunden, erfährt es eine neue Deutung. Genauer, der Künstler fördert den verborgenen wahren Sinn, der dem Gegenstand von Anfang an innewohnte, zutage. Im Objekt „Einhorn“ wird eines der Hauptthemen in Krasulins Werk deutlich: Die Abwesenheit. Das Festhalten des Negativs und die Visualisierung dessen, was nicht vorhanden ist. Es steht für den Verlust und ist zugleich Symbol für die vergangene Zeit und die Erinnerung, die aus Löchern und Verlusten besteht.


Andrey Krasulin - EINHORN. Werke von 1960 bis 2023, Installationsansicht, Galerie Volker Diehl, Mommsenstraße, Berlin, 2023 © Marcus Schneider


Eines der offensichtlichsten und berührendsten Objekte der Ausstellung ist die Skulptur „Kriegsgewinner“ aus der Serie „Mensch mit Behinderung“. Das Bild eines Menschen ohne Beine, der zusammengekrümmt auf einem selbstgezimmerten Brett mit Rädern darunter sitzt, kennt jeder, der einmal in Russland war. Solche Bretter dienen Veteranen des Afghanistan- und des Tschetschenien-Krieges als Fortbewegungsmittel. Am häufigsten trifft man sie auf Bahnhöfen. Sie betteln an Zügen und vor Fußgängertunneln. Behinderung ist eines der am stärksten präsenten Themen in Russland vor und nach 2022. Einerseits wurden in den letzten Jahren zahlreiche Programme zu Inklusion und Vielfalt entwickelt, andererseits konnten sich diese Projekte wegen nur unzureichender Barrierefreiheit, des niedrigen Lebensniveaus und der gesellschaftlichen Stigmatisierung nicht so entwickeln, wie es im Hinblick auf die Dringlichkeit des Problems notwendig wäre. Es ist nicht verwunderlich, dass Andrey Krasulin nach seinem Umzug nach Berlin im Februar 2022 als Erstes eine Replik gerade dieser Arbeit in Karton anfertigte. In allen Versionen, ob in den Skizzen, den Bronzegüssen oder in der Karton-Vorlage ist dieses Objekt sehr fragil und monumental zugleich. Diese Besonderheit zeichnet Krasulins Handschrift aus: Selbst eine Linie auf Papier ist monumental. Durch dieses Monumentale integrieren sich seine Arbeiten, ob Skulptur oder Malerei ganz organisch in ihre Umgebung und werden ein Teil von ihr.
Zu den ganz neuen Methoden, denen sich Krasulin in Berlin zuwendet, gehört das Zeichnen mit der linken Hand. In der Serie von Zeichnungen auf Brottüten arbeitet der Künstler mit spontanen Linien, die sich für den Autor selbst unvorhersagbar entwickeln. Diese auf den surrealistischen Automatismus und die dadaistische Willkürlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgehende Praxis fördert die Freisetzung nicht offensichtlicher und unterbewusster Bilder, wobei der eigene Körper des Künstlers, der die Linie hervorbringt, als Medium dient. Aber es ist nicht auszuschließen, dass Krasulins Experimente mit Technik und Inhalt, ebenso wie in Bezug auf Arte povera und Neokonkretismus, nicht programmatisch sind, sondern intuitiv. Aus sich selbst heraus entstehend, aus Brottüten, Erde, einem Fluss und dem Universum ...
Shenja Kiseleva-Afflerbach, PhD