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Ausstellung
SERGEY BRATKOV
CHAPITEAU MOSCOW
DATUM 07. Jun. 2013 - 27. Jul. 2013 Ort DIEHL ERÖFFNUNG 06. Jun. 2013 00:00

Sergey Bratkov - Chapiteau Moscow, Installationsansicht, Galerie Volker Diehl, Berlin, 2013 © Marcus Schneider

Wenn es nach Sergey Bratkov geht, ist das Leben gleichbedeutend mit Kraft und Energie. Das Leben weckt Gefühle, Leidenschaften und treibt sie voran und ist für Bratkov auch immer interaktives (wenn nicht zwangsläufig dialektisch im weltanschaulichen Sinne) soziales Engagement.

Nichts an Bratkovs bildlicher Weltanschauung wirkt kontemplativ. Seine aktuelle Photographie- Serie Modern Gaiety. Chapiteau Moscow ist hierfür ein Beweis. Erstmals gezeigt wurde sie in der Halle der ehemaligen Fabrik Roter Oktober in Moskau. Mit dieser Serie gibt Bratkov zu verstehen, dass Polarität eine natürliche Zweiteilung ist: Er stellt jeweils zwei Bildinhalte in Form visueller Montagen nebeneinander. Hierbei wählt der Künstler unterschiedliche Aspekte aus Moskaus sozialem, wirtschaftlichem und kulturellem Leben, die die Lebendigkeit der ständigen sozialen und kulturellen Experimente dieser Stadt wiedergeben. Dabei wird das Wissenschaftliche neben das Soziale gestellt, das Experiment neben den Gemeinplatz, öffentlicher Protest neben Codes autoritärer Unterdrückung. Bratkov führt in den Montagen zwei unterschiedliche Zeit- und Örtlichkeiten zusammen, beide erkennbar und beabsichtigt anonym gehalten, unter der Schirmherrschaft Moskaus als zentralem Charakter. Der Künstler kreiert auf diese Weise das Gefühl eines, so Viktor Misiano, “urbanen Trugbilds“.

In einer Stadt, die zum Teil von Stalins stilistischer Einheitlichkeit geformt wurde, die gefangen ist zwischen der revolutionären Architektur der 1920er und den neuen modernistischen post- stalinistischen architektonischen Experimenten der 1960er, schafft Bratkov es, eine einzigartige Heterogenität aufzuzeigen, die sowohl den staatlichen Autoritarismus übergeht und untergräbt, als auch die theoretischen Ideologien der deterministischen Moderne. In seinen photographischen Arbeiten enthüllt Bratkov soziale Symbole und zeitgenössische kulturelle Ambitionen - aber auf menschliche Art und Weise - bei der die Bewohner der Stadt (eher als die Obrigkeiten) eine individuelle paradoxe Art sozialen Zusammenhalts aufrechterhalten. Bratkov legt nahe, Moskau als eine Stadt des 20. Jahrhunderts zu betrachten. Eine Stadt, die nachdem sie wieder Hauptstadt wurde, ein Ort ständiger sozialer Experimente und Investigationen war. Dennoch haben diese Montagen nichts verdrießliches, nichts nach innen gerichtetes an sich; der Ton ist in vielerlei Hinsicht feierlich. Dies sind keine Werke für das Archiv oder verstaubte Akten für zukünftige Erinnerungen. Eher sind es Bilder vom Leben, oder, wie Bratkov es nennt "modern gaiety" (moderne Heiterkeit).

Das französische Wort Chapiteau im Ausstellungstitel Chapiteau Moscow bedeutet „Zelt“ und bezieht sich auf Moskau als neuzeitliches Zirkuszelt, als lebender Zirkus der Unterschiede und der Fülle. Das erinnert an Walter Benjamin, der zunächst Berlin, dann Paris und schließlich Moskau (er besuchte die Stadt 1926) als seine Städte des 19. bzw. 20. Jahrhunderts erwählte. So sagt er über Moskau „...hier liegt jeder Gedanke, jeder Tag, jedes Leben wie auf einem Labortisch. Und als ob es Metalle wären, aus denen eine unbekannte Substanz extrahiert wird, auf jede erdenkliche Weise, müssen sie Experimente bis zur Erschöpfung ertragen.“

Mark Gisbourne, 6 June 2013

Übersetzung: Helen Neumann