Peter Chevalier - In den Wind gesät, Installationsansicht, Galerie Volker Diehl, Berlin, 2022 © Marcus Schneider
Carsten Ahrens
»In den Wind gesät«
Zu den Bildräumen von Peter Chevalier
„Das Bild ist beendet, wenn es die Idee verjagt hat, wenn man
im Unabänderlichen angelangt ist. Der Kopf ist frei“1
Peter Chevalier
Peter Chevalier zählte bereits unmittelbar nach seinem Studium an der Hochschule für bildende Künste in Braunschweig zu den Protagonisten einer Neuen Malerei in Deutschland. Vergleichbar der in Italien aufkommenden Arte cifra eines Sandro Chia oder Francesco Clemente setzte auch in Deutschland eine junge Generation von Malern nach einem Jahrzehnt der apodiktisch strengen Abstraktion wieder auf figurativ-erzählerische Darstellungen in der bildlichen Vorstellung. In ihrer Sehnsucht nach Kategorisierung subsummierte die schreibende Kritik alles, was vermeintlich figurativ operierte, unter der neuen Stilrichtung des Malerischen. Dabei geriet natürlich aus dem Blick, dass diese recht eindimensionale Einordnung den sehr besonderen Positionen einiger dieser Maler in keiner Weise gerecht wurde.
Die Malerei von Peter Chevalier formuliert sich von Beginn an als ein Gegenbild zur real existierenden Welt der konditionierten Normen und Zwänge; als ein Gegenbild, das dieser Welt im Prozess des Malerischen abgerungen wird. Die frühen Bilder Chevaliers werden dominiert von einer surrealen Grundstimmung, die sich eng an die luzide Statuarik der Pittura metafisica eines Sironi, Carrá oder de Chrico anlehnt, und in denen figurative Elemente aus unterschiedlichsten Wirklichkeitssphären – Mensch, Tier, Architekturen, geheimnisvolle Dinge aus der Welt der Objekte – in einen poetischen Dialog treten. Über die Vertrautheit der Figurationen hält das Bild zum einen die Verbindung zur Welt – und löst sich gleichsam in der malerischen Kälte dieser Bilder, also in der Tonlage der Logik des Traumes und der abrupt aufscheinenden Assoziation, von der Wirklichkeit der Welt ab. Die so entstehenden Bildräume Chevaliers sind so allein Räume der Vorstellungswelt und der Imagination, die eine Welt hinter den Dingen anvisieren und malerisch in den Rissen der Welt Freiheitsräume des Gedanklichen eröffnen.
Andrej Tarkowskij, dessen Filmschaffen wohl neben dem Godards am nächsten an der Malerei sich ansiedelte, hat in seinen unter dem Titel „Die versiegelte Zeit“ erschienenen Texten zur Kunst diesen Prozess der Weltbegegnung des Künstlers beschrieben: „In der Kunst eignet sich der Mensch die Wirklichkeit durch subjektives Erleben an. In der Wissenschaft folgt das menschliche Wissen den Stufen einer endlosen Treppe, wobei immer wieder neue Erkenntnisse über die Welt an die Stelle der alten treten. Dies ist also ein stufenförmiger Weg mit einander aufgrund objektiver Detailkenntnisse folgerichtig aufhebenden Einsichten. Die künstlerische Einsicht und Entdeckung entsteht dagegen jedes Mal als ein neues und einzigartiges Bild der Welt, als eine Hieroglyphe der absoluten Wahrheit. Sie präsentiert sich als eine Offenbarung, als ein jäh aufblitzender leidenschaftlicher Wunsch des Künstlers nach intuitivem Erfassen sämtlicher Gesetzmäßigkeiten der Welt – ihrer Schönheit und ihrer Hässlichkeit, ihrer Menschlichkeit und Grausamkeit, ihrer Unendlichkeit und ihrer Begrenztheit. Alles dies gibt der Künstler in der Schaffung eines Bildes wieder, das auf eigenständige Weise das Absolute einfängt. Man könnte sagen, dass die Kunst ein Symbol dieser Welt ist, die eine positivistisch-pragmatische Praxis vor uns verborgen hält.“3
Die frühen Bilder von Peter Chevalier formieren sich im Rückblick zu einer ersten Phase seines Schaffens, die Ende der 1980er Jahre von einem neuen künstlerischen Ansatz seiner Malerei abgelöst wird. Vielleicht war es die zu starke Nähe zur literarischen Assoziation, die die kenntlichen Figurationen in den frühen Bildern auslösten; vielleicht auch war es die partiell als eventuell auflösbares Rätsel empfundene geheimnisvolle Bildwirklichkeit dieser Bilder – so als ob das tiefe Geheimnis des Lebens sprachlich aufzulösen wäre –, die den Prozess des Malens im Atelier Chevaliers in eine neue Richtung trieben. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Werk Odilon Redons trug ebenfalls zu dieser Entwicklung bei.
In einer Ausstellung in Düsseldorf4 wurden diese neuen Bilder, die wir als die zweite Phase des Schaffens des Künstlers bezeichnen können, unter dem Titel „UMM DÔMA“ erstmals ausgestellt. Und in der Tat sehen wir gänzlich andere Bilder – eine vollkommen verwandelte künstlerische Handschrift des Malers Peter Chevalier, die sofort ins Auge fällt.
Die klar konturierte poetische Bilderzählung der frühen Bilder ist hier gewissermaßen eingeschmolzen im Sog der Malerei und so in einen tiefgründigen Auflösungs- und Verwandlungsprozess überführt. In der Konzentration auf das innere Prinzip der Malerei, das dem Zufall ebenso viel Raum lässt wie der Notwendigkeit des nächsten Pinselstrichs, der dem Prinzip von Satz und Gegensatz folgt, entstehen phantasmagorisch anmutende Gestalten, die aus tiefgründigen Malschichten vielschichtiger Valeurs ostentativ aufscheinen und die allein in ihrer schrundigen Schemenhaftigkeit noch an menschliche Gestalt erinnern. Machen wir auch hier und da Gesichter aus, so ist diesen jegliche individuelle Zeichnung genommen. Exponiert wird hier die – vielleicht durch die Menschheit selbst – zur Unkenntlichkeit geschundene Kreatur Mensch. Erinnerungen an Bilder anderer Maler – wie Wols oder Jean Fautrier – stellen sich ein.
Immer auf den Prozess des Malerischen vertrauend, dem in der täglichen Auseinandersetzung mit der Leinwand auch immer das Scheitern innewohnt, hat Chevalier innerhalb der zweiten Phase seines Schaffens die immer stärker zerfließenden Figurationen seiner Bildwelten in Richtung einer zunehmenden Oszilation getrieben. Wo vordem eine einzelne Figur das Bild dominierte, entstehen nun mehrere gleichwertige Zentren des Bildes, Bruchstücke der Imagination, die wie Partikel einer allumfassenden Maschinerie in- und gegeneinander schwingen. Es geht darum, aus dem malerischen Prozess heraus die Entstehung eines Bildes zu entwickeln, das als in sich geschlossenes System gleichsam jene Mannigfaltigkeit und Vielschichtigkeit offenbart, die dem sinnstiftenden Blick jede Freiheit gewährt und diese Sinnstiftung im Gegenzug immer auch attackiert – um als Bild mit allen Mitteln des Malers gewappnet zu sein gegen jede Form der eindimensionalen Betrachtung. In diesem malerischen Spiel der extremen Gratwanderung hoher Bravura ist Chevalier ein Meister.
Aus diesen Bildern der 1990er Jahre haben sich schließlich jene Bilder entwickelt, die nochmals eine ganz andere Handschrift des Künstlers Peter Chevalier zeigen und von denen nun einige in der aktuellen Ausstellung der Galerie Diehl zu sehen sind. In einer neuen Offenheit binden diese Bilder, die sich zu einer dritten Phase des Werkes fügen, alles Vorhergehende in einem neuen Klang des Malerischen zusammen – in einer gewissermaßen tänzerischen Leichtigkeit erscheint diese Malerei in einem vollkommen anderen Licht.
Auffallend ist zunächst die malerische Transparenz, die offen schimmernde Luzidität der Farben, die mit den tiefen Malgründen früherer Jahre nichts mehr zu tun haben. Dieser neue Farbklang der Bildräume Chevaliers macht die Vielzahl der figurativen Phänomene, die hier aufscheinen, zu flüchtigen Momenten einer stetig schwingenden Imagination, in der alles mit allem sich scheint verbinden zu können und doch als originäre Erscheinung ein Eigenes bewahrt. In dieser malerischen Konstellation schwingt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Chiffre unserer Zeit mit.
All diese Bilder verbindet eine Horizontlinie, die auf vielschichtige Weise das untere Bildviertel vom eigentlichen Bildraum trennt. Es scheint, als wäre unterhalb dieser ebenso trennenden wie verbindenden Grenze ein Raum der Wirklichkeit angedeutet, der vom eigentlichen Bildraum der künstlerischen Imagination überflutet wird. Als würde die Welt hinter den Dingen auf einmal aufscheinen – wie der nächtliche Traum, der sich aus den Partikeln des Tages speist, und dessen Logik und vermeintliche Vernunft aus den Angeln hebt. In diesem Raum der vermeintlichen Wirklichkeit erdet sich gewissermaßen das Geschehen im eigentlichen poetischen Bildraum, der ein Terrain allein der Vorstellung ist.
Dieses Areal der malerischen Imagination wird bevölkert von den unterschiedlichsten Phänomenen, die in verschiedenen Wirklichkeiten in Erscheinung treten. Prismenhafte Zylinder mögen in rigider Abstraktion an menschliche Figuren erinnern oder sind vielleicht doch allein magisch schimmernde Objekte. Es ließe sich jetzt eine umfangreiche Darstellung dieser mannigfaltigen Chiffren, Arabesken, Symbole und Zeichen aufstellen, die in diesen Bildern aufscheinen – doch am Ende bleibt es allein dem Betrachter überlassen, welchen Pfaden er in dieser malerischen Welt folgen mag und welche Verknüpfungen er herzustellen gewillt ist.
Es sei an dieser Stelle erneut Andrej Tarkowskij zitiert, um das Kalkül dieses Mixtum compositum in den jüngsten Bildräumen Peter Chevaliers zu beschreiben: „so erinnert das künstlerische Erkennen an ein unendliches System innerlich vollendeter, in sich geschlossener Sphären. Diese Sphären können einander ergänzen oder widersprechen, sich aber unter keinerlei Umständen gegenseitig ersetzen. Im Gegenteil, sie bereichern einander und bilden in ihrer Gesamtheit eine besondere übergreifende Sphäre, die ins Unendliche wächst.“5
Peter Chevalier geht mit der Erfahrung eines Malerlebens und in zweifelnd erkämpfter traumwandlerischer Sicherheit in das hohe Risiko des Experiments, um divergierendste Partikel seiner Imagination im Prozess der Malerei in seinen Bildräumen zusammenzuführen. Er ist so weiterhin auf der Spur dessen, was Peter Sloterdijk als die Moderne beschreibt: „Moderne, das bedeutet: Betroffensein von dem Zwang zu wählen zwischen der Selbsterhaltung in stationären Verhältnissen und der Steigerung durch Versuche. Es gibt immer nur so viel Modernität wie es Freiwilligkeit gibt für das höhere Experiment. Moderne, das bedeutet: Die Evangelien ändern sich. Die schlechten und die guten Nachrichten sind nicht mehr fest an ihren Plätzen. Moderne, das bedeutet, dass das Chaos in den Menschen knapp werden kann. ‚Ich sage Euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können‘ (Friedrich Nietzsche). Das ist die Stimme der neueren Ästhetik selbst.“6
Die wie ein Fluss ohne Ufer von Peter Chevalier vorangetriebene Malerei folgt diesen Maximen der Lust an der Veränderung, wie auch jener Hoffnung, die Georg Simmel ausgegeben hat: „so gehört dies überhaupt zu dem unbegreiflich Höchsten aller Kunst, dass sie Wertreihen, die im Leben gleichgültig, fremd oder feindlich auseinanderliegen, wie in selbstverständlicher Einheit zusammenführt.“7
Oder in den Worten des Malers:
„Die rote Farbe ist rot.
Gelb sind die Astern.
Grün ist schön. Neben Mist.
Schwarz ist auch dunkel.“
Anmerkungen:
1 Zitat von Peter Chevalier, in: Kritisches Lexikon der Gegenwarts- kunst, Ausgabe 80, Heft 25, 4. Quartal 2007, S. 1
2 Andrej Tarkowskij, »Die Kunst als Sehnsucht nach dem Idealen«, in: ders., »Die versiegelte Zeit«, Verlag Ullstein, Frankfurt am Main – Berlin 1984, S. 43f.
3 Ausstellung in der Galerie Gmyrek in Düsseldorf, 1989
4 Andrej Tarkowskij, »Die Kunst als Sehnsucht nach dem Idealen«,
in: ders., »Die versiegelte Zeit«, Verlag Ullstein, Frankfurt am Main –
Berlin 1984, S. 45
5 Peter Sloterdijk, »Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich
haben«, in: ders., »Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst«, Fundus, Philo & Philo Fine Arts – EVA Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2007, S. 402
6 Georg Simmel, »Zur Philosophie des Schauspielers«, in: ders., »Das individuelle Gesetz«, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 90