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Ausstellung
MARTIN ASSIG
ÜBUNGEN ZUR VERWUNDERUNG - TEIL II
DATUM 06. Sep. 2020 - 06. Nov. 2020 Ort DIEHL ERÖFFNUNG 05. Sep. 2020 11:00

Martin Assig - Übungen zur Verwunderung Teil II, Installationsansicht, Galerie Volker Diehl, Berlin, 2020 © Marcus Schneider

ZUR ONLINE PRÄSENTATION

 

Ihre besten Momente hat die Kunst, wenn sie vergisst wie sie heißt.

Jean Dubuffet

 

Das Künstlerische beginnt mit dem Wort „anders“.

Carl Einstein

 

Der Maler erfährt und empfindet und denkt die Welt in Bildern. Er folgt der Linie, die den Schlängellinien der Existenz auf der Spur ist und das Skelett des Seins nachzuzeichnen sucht. Und der Farbe, die uns näher an das Herz der Dinge heranführt, indem sie das Abbild der Welt aufsprengt. „Das Sehen des Malers ist nicht mehr ein Blick auf ein Äußeres, eine bloß physikalisch-optische Beziehung zur Welt. Die Welt liegt nicht mehr durch Vorstellung vor ihm. Vielmehr ist es der Maler, der in den Dingen geboren wird durch eine Konzentration und ein Zu-sich-Kommen des Sichtbaren, und das Gemälde bezieht sich schließlich nur dann auf irgend etwas unter den empirischen Dingen, wenn es zunächst autofigurativ ist; es ist nur insofern Schauspiel von irgend etwas, als es Schauspiel von nichts ist, indem es die Haut der Dinge sprengt.“ (Maurice Merleau-Ponty)

 

„Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“

Caspar David Friedrich

 

Das Atelier des Malers ist ein Ort des Zu-sich-Kommens. Ein Ort der Konzentration, des Einblicks und des Ausblicks. Im vormaligen Tanzsaal einer ehemaligen Dorfschenke im brandenburgischen Brädikow hat Martin Assig sein Atelier aufgeschlagen. Nun tanzen hier die Linien, die Formen und Farben seiner Malerei. Im täglichen Exerzitium der Zeichnung entsteht hier jene Flut von Blättern, in denen der Formenreichtum dieser künstlerischen Sprache sich entfaltet, ein Fluss ohne Ufer und gleichsam das Flussbett der Malerei des Künstlers.

 

Martin Assig reiht an den Wänden seines Ateliers Zeichnung an Zeichnung. In der linearen Folge zeigen sie den Prozess des Umkreisens einer Form, eines Liniengefüges. Wie in einem Tagebuch beschreiben sie eine unendlichen Reise, als deren Zielhafen die gültige Form und das stimmige Liniengefüge aufscheinen. Flankiert werden sie von den eigenartigsten Artefakten, darunter viele Objekte aus der Welt des Religiösen, in denen der Glaube an die Kraft des geistigen Bildes sein Echo findet. Auffällig an den meisten Blättern der Zeichnungs-Serien ist ihre augenfällige Symmetrie – gewissermaßen der skelettartige Referenzpunkt auf den menschlichen Körper, dem Ausgangspunkt aller Werke des Künstlers.

 

Was mich an jeder Malerei interessiert, ist die Ähnlichkeit, das heißt das, was für mich die Ähnlichkeit ist, was mich ein wenig die äußere Welt entdecken lässt.

Alberto Giacometti

 

Martin Assigs Malerei ist zeichenhaft. Er sucht nicht nach der reinen Peinture. Linie und Konfiguration sind ebenso zentrale Vokabeln seiner künstlerischen Sprache wie es die Farbe ist. Tiefe ist in diesen Werken kein räumlicher Begriff, sondern allein ein Fluchtpunkt, der das Echo im Resonanzboden unserer Erfahrung, unserer geistigen Empfindung anvisiert.

Wir sehen farbige Flächen, oft in musterhafter Reihung strukturiert, wir sehen mäandernde Linien, Linien die einer geometrischen Struktur folgen und Linien, die einem inneren Gesetz folgend scheinbar wuchernd ihren Weg suchen. Wir sehen Bilder von Gesichtern und Formen, die Gefäße markieren, Behältnisse, Körperhaftes. Doch all dies bleibt in der Dimension des Bildes als flächiges Ereignis, als zeichenhaft Geistiges. Auch deshalb ist hier in den Gezeiten des Bildes die Sprache der Buchstaben kein Fremdkörper, sondern gleichberechtigtes Zeichen im Strom der Formen, aus denen das Bild sich bildet.

Das Bild ist Bild und nur als Bild ein Körper in der realen Welt.

 

Selbstredend kennt das Ich weder außen noch innen, es ist allumfassend und raumlos. Es ist das Wesen des Ich, sich aus sich selbst herauszuschleudern, sich zu realisieren, sich phänomenal zu machen, sich nach außen zu projizieren.

Vilém Flusser

 

In seiner beispiellosen Mannigfaltigkeit wie der spielerischen Ungezwungenheit der eingesetzten Mittel zeichnet diese Bilder eine geradezu unermessliche Freiheit des Künstlerischen aus, die wir eigentlich gewohnt sind, einem Alterswerk zuzumessen. Und trotz der Formenvielfalt dieses Werkes, das die Möglichkeitsformen der Malerei von Pol zu Pol auszumessen scheint, spüren wir immer die Handschrift des Künstlers, in dessen Diktion die unterschiedlichsten Erscheinungen zusammengebunden scheinen.

 

Und nicht vor ungefähr begegnen wir hier immer auch Formen, die wir in den Werken der l’art brut glauben erstmals gesehen zu haben. Nicht von ungefähr, weil das wahre Bild des Malers „dem Geist keine Gelegenheit bietet, die konstitutiven Beziehungen der Dinge nachzuvollziehen, sondern dem Blick die Konturen einer Innenschau darbietet, damit er sich mit ihnen vermähle und dem Sehen zu erkennen gibt, womit es innen ausgestattet ist, das imaginäre Gewebe des Wirklichen“ (Maurice Merleau-Ponty).

 

Diesen Moment visieren die Bilder Martin Assigs an. In einem Geflecht aus Linien, Flächen, Farben und Schriftzeichen. Auf der Ebene des flächigen Bildes im zeichenhaft Spielerischen  der Tiefe des Lebendigen auf der Spur. Seinen hellen und dunklen Sphären, seinen Höhen und Abgründen nachspürend.

 

Moderne, das bedeutet: Betroffensein von dem Zwang zu wählen zwischen der Selbsterhaltung in stationären Verhältnissen und der Steigerung durch Versuche. Es gibt immer nur so viel Modernität wie es Freiwilligkeit gibt für das höhere Experiment.

Peter Sloterdijk

 

Beispiellos in ihrer immer neu formulierten Andersartigkeit, entstehen die Bilder Martin Assigs für dieses höhere Experiment. Verbunden mit so vielem, was die Malerei der Zeitalter hervorgebracht hat – und doch anders als alles andere, das wir kennen. Sehnsüchtig gespannt auf das eine Bild, das still steht – und ständig bewegt auf der unendlichen Reise an diesen Ort, der unentdeckt bleibt.

 

 

Text von Carsten Ahrens