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Ausstellung
GRAZIA VARISCO
CUBO AL QUADRATO – QUADRATO AL
DATUM 02. May. 2014 - 30. Jun. 2014 Ort DiehlCUBE

Grazia Varisco - Cubo Al Quadrato - Quadrato Al, Installationsansicht, Diehl Cube, Berlin, 2014 © Marcus Schneider

"I am sure just of my doubts'' – Über (die Kunst von) Grazia Varisco

 

Grazia Varisco ist eine Künstlerin, die ihren Ideen und Idealen – somit sich selbst – über mehrere Dekaden hinweg treu geblieben ist. Seit über 50 Jahren schafft sie nun anhand eines reduzierten geometrischen Formenvokabulars unentwegt künstlerische Arbeiten, die immer wieder auf innovative Weise Raum und Zeit, Bewegung und Veränderung sowie Licht und Schatten thematisieren.

 

Eine „treue Seele“ ist Varisco gleichfalls gegenüber ihren Mitmenschen. 1960 etwa trat sie in Mailand dem Künstler-Zusammenschluss gruppo T bei, der sich nach einigen Jahren gemeinsamer Aktivitäten auf dem Gebiet der Kinetik wieder auflöste. Selbst noch heute formuliert sie, nach ihren damaligen persönlichen Zielen befragt, ihre Antworten in der Plural-Form mit „wir“. Gerade in der Kunstwelt, in der sich viele um jeden Preis zu profilieren suchen, zeugt dies zum einen von einer ungewöhnlichen Zurücknahme der eigenen Person – ein Umstand, der sich auch in der objektiven Sprache ihrer Kunst widerspiegelt. Zum anderen belegt dies Variscos Loyalität gegenüber ihren damaligen Kameraden, selbst wenn diese, wie etwa Gianni Colombo, gar nicht mehr unter uns Lebenden sind.

 

Auf Varisco ist also Verlass. Und dies gilt ebenso in Bezug auf die Qualität ihrer Arbeiten. Ist „Alterswerk“ nur allzu häufig ein Synonym für das dem frühen Oeuvre unterlegene späte Schaffen eines Künstlers – Mondrian wäre eine der Ausnahmen, welche die Regel bestätigt –, so bleibt Varisco eine konstante Größe.

 

Zeugnisse dessen sehen Sie nun in der hiesigen Ausstellung, die in zwei zugleich räumlich getrennte Teile separiert ist. Jenen, der im „Cube“ präsentiert wird, hat Varisco mit „Cubo al Quadrato – Quadrato al Cubo“ betitelt. Sensibel für Sprache und ihre (auch Fehl) Interpretationen, spielt Varisco seit jeher in ihren kurzen, die eigenen Arbeiten erörternden Texten mit verschiedenen (Be-)Deutungsmöglichkeiten. Derart ergeben sich ebenso in unserem Falle vielfältige Lesarten. Die wohl nächstliegende ist jene, welche auf den Ausstellungsort und die Exponate Bezug nimmt: Während die Wände des 7 x 7 x 7 m großen „Cube“ einen großen Würfel bilden, sind die darin exponierten Arbeiten der Werkreihe Gnomoni allesamt aus quadratischen Rahmenformen gewonnen. „al quadrato“ bezeichnet darüber hinaus das mathematische Multiplizieren mit sich selbst. Und noch eine andere Assoziation kann der Titel hervorrufen: analog zur Linie, die aus dem sich bewegenden Punkt durch die Raum-Zeit gebildet wird, entsteht der Würfel aus dem Quadrat.

 

Besonders letztgenannter Aspekt berührt wiederum einen Kerngedanken, der seit 1959 bis heute Variscos Oeuvre entscheidend prägt: die Integration von Zeit und Bewegung in ihr Schaffen, was eine permanente Veränderung(smöglichkeit) der Erscheinungsweise zur Folge hat.

 

Eine Vielzahl entsprechender Beispiele findet sich im anderen Teil der Ausstellung, der „Se… 1959-2014“ betitelt ist. Exponiert sind hier etwa Werke der 1960er Jahre, wie Variscos Magnettafeln Tavole magnetiche mit versetzbaren Bildelementen, motorisierte Lichtkästen der Serie Schemi luminosi variabili oder ihre Reticoli frangibili: hinter Strukturglas montierte geometrische Bildmotive, die sich durch den Standortwechsel des Betrachters visuell verändern. Überhaupt sei an dieser Stelle ins Bewusstsein gerufen, dass Varisco nicht nur eine der frühesten Künstlerinnen ist, die sich der kinetischen Kunst widmete. Ebenso ist sie seit 1959 eine der Pionierinnen in Bezug auf Kunstwerke, welche eine aktive Beteiligung des Publikums ermöglichen. Noch in den späteren Spazi potenziali der 1970er Jahre lassen sich Rahmenformen unterschiedlich auf eine Trägerplatte hängen, während diverse Extrapagine das „Umblättern“ einzelner, aus der Faltung gewonnener Bildpartien ermöglichen. Und selbst viele ihrer jüngeren Arbeiten basieren nach wie vor auf diesem Variabilitäts-Prinzip. Dies gilt etwa für die manuell verschiebbaren Rahmengefüge Silenzi oder die Varianten von Variscos aktueller WerkreiheRisonanza al tocco auf Basis eingeschnittener Metallplatten, deren Lamellen durch Berührung in Schwingung versetzt werden können.

 

Weniger offensichtlich, jedoch gleichfalls vorhanden, ist das Prinzip der Veränderung in jenen Arbeiten, in denen Licht und Schatten eine bedeutende Rolle spielen. Selbst wenn einem etwa Variscos Gnomoni oder Meridianeunbekannt sind, so offenbaren doch schon deren Titel, dass hier Licht und Schatten, sowie Zeit und Bewegung von zentraler Bedeutung sind. Denn beide Begriffe bezeichnen Sonnenuhren. In besagten Werken spielt denn auch der Schattenwurf eine zentrale, werkkonstituierende Rolle. Bei den Gnomoni etwa ist dies jener der von der Wandfläche in den Raum abgekanteten Metallrahmen. Da sich je nach Lichtverhältnissen der Schatten ändert, sind diese Arbeiten in ihrer Erscheinungsweise nie konstant, sondern in steter Veränderung und einem ständigen Werden.

 

Daneben wird in den Gnomoni ein weiteres wichtiges Thema, mit welchem sich Varisco seit Anbeginn ihrer künstlerischen Karriere vielfältig befasst, sichtbar: ihr Interesse für Raum und, später daraus abgeleitet, für ganze Raumenvironments. Varisco agiert hierbei nie mit geschlossenen, den Raum besetzenden Volumen. Vielmehr gewinnt sie diesen dadurch, dass sie Flächen ein- oder ausschneidet, faltet oder ihn mit offenen Rahmenformen umfasst und formt. Letzteres etwa wird sichtbar in den späteren Spazi potenziali, der ReiheFraktur oder den rezenten Quadri comunicanti. Es verwundert nicht, dass ausgerechnet Lucio Fontana, der mit seinen wagemutigen Leinwandperforationen ebenfalls das herkömmliche Bild in die dritte Dimension erweiterte, im Jahr 1960 der erste Käufer eines Objektes von Varisco war.

 

Die Künstlerin selbst hat dem retrospektiven Teil dieser Ausstellung „Se…“(dt..: „Wenn…”) als Titel vorangestellt. Tatsächlich eröffnet „se“ ein Feld der Möglichkeiten. Nichts ist absolut, alles ist relativ; nichts ist fix, alles in Veränderung; nichts ist sicher, alles steht in Frage. „I am „se“ erklärt Varisco hierzu, denn sie zweifle stets an allem, weshalb sie immer mit Gegensätzen arbeite. Konstant bliebe nur eines: „I am sure just of my doubts…“ Selten führte der Zweifel zu derart überzeugenden Resultaten.

 

Frederik Schikowski